52 Millionen verkaufte 9 Euro-Tickets im vergangenen Jahr außerhalb bestehender Abos sprechen für ein günstiges, bundesweit gültiges Ticket als wichtigen Baustein der Mobilitätswende.
Nachfrageimpuls
Argumentativ landen die Diskussionen zur Schaffung eines attraktiven und günstigen ÖPNV-Angebots häufig in einer Sackgasse. Zum einen mache ein solches Vorhaben hohe Investitionen erforderlich und bringe zusätzliche Personal- und Betriebskosten mit sich. Zum anderen müsse die Finanzierung sich auch in höheren Preisen für die Nutzer:innen niederschlagen. So unterbleiben entsprechende Bemühungen häufig. Insbesondere Bewohner:innen ländlicher Räume sind daher vor allem auf den PKW als Verkehrsmittel angewiesen.
Im Februar 2021 befragten wir als Bundes-SGK die Teilnehmer:innen unserer Fachkonferenz „konkret.kommunal.mobil“ zur Attraktivität des ÖPNV. Konkret wollten wir wissen, ob die Tarife wegen der neuen mobilen Arbeitsformen während der Corona-Pandemie vielfältiger werden müssten. Die Mehrheit der Befragten wählte die Antwort: „Der ÖPNV ist insgesamt zu teuer, die gesamte Tariflandschaft müsste neu geordnet werden.“
Das 9 Euro Ticket initiierte von Juni bis August 2022 wegen des niedrigen Preises als auch seiner räumlich unbegrenzten Gültigkeit einen starken Nachfrageimpuls vor allem im SPNV. Ein ähnlicher Effekt wird vom Deutschlandticket erhofft. Neben einem günstigen Preis und der bundesweiten Gültigkeit erwarten die Menschen aber auch ein besseres Angebot. Daher müssen der notwendige Ausbau des ÖPNV und der günstige Tarif Hand in Hand gehen!
Veränderung des Modal Split
Daten des Umweltbundesamtes veranschaulichen: In Deutschland dominiert der motorisierte Individualverkehr weiterhin mit einem Anteil von fast 74 Prozent und liegt damit eindeutig vor dem Umweltverbund (Fußgänger-, Rad-, Schienen- und öffentlicher Straßenpersonenverkehr) mit zusammen etwa 21 Prozent. Diese Anteile blieben seit 2003 in etwa stabil. Mit der Pandemie gewann der motorisierte Individualverkehr noch hinzu.
Die Zufriedenheit der Bürger:innen mit dem ÖPNV hängt in Stadt und Land vom Wohnort ab. Je größer die Stadt, desto höher die Zufriedenheit. Auf dem Land gilt, je zentraler der Wohnort desto zufriedener die Nutzer:innen. Dies hat mit der Taktfrequenz aber vor allem auch mit der Erreichbarkeit von Angeboten zu tun.
Systembedingt sind attraktive Angebote in ländlichen Räumen schwieriger zu realisieren. Dies liegt an der niedrigeren Bevölkerungsdichte, der geringeren Zentralität der Siedlungsstruktur und auch den insgesamt längeren Distanzen, die zu überwinden sind. Neben dem „klassischen“ ÖPNV braucht es hier auch flexible und vernetzte Lösungen wie On-Demand-Verkehre, intelligente Sharing-Angebote und eine bessere – und digital steuerbare – Vernetzung der Verkehrsträger (Ride & Bike an ÖPNV-Haltestellen, Park & Ride an ÖPNV-Haltestellen sowie Mitfahrparkplätze) Bisher sind zufriedenstellende Verkehrsangebote im Nahverkehr eher die Ausnahme. Dagegen wird sich der Modal Split in den Städten nur weiter verbessern, wenn der öffentliche Verkehr auch auf dem Land ausgeweitet und zu einem günstigen Preis angeboten wird.
Die Mobilitätswende kann nur gelingen, wenn sie überall stattfindet! Mit der bundesweiten Gültigkeit des Deutschlandtickets kann ein Meilenstein gegenüber dem Status quo erreicht werden. Die Nutzung würde attraktiver, selbst wenn erste und letzte Meile mit dem PKW zurückgelegt werden müssten.
Das Deutschlandticket
Die Einigung zwischen Bundeskanzler und Ministerpräsident:innen am 8. Dezember 2022 hat den Weg frei gemacht für ein kostengünstiges und bundesweit gültiges Ticket. So sieht die Umsetzung aus:
- Der Einführungspreis beträgt 49 Euro im Abonnement, das monatlich kündbar ist,
- gültig wird es voraussichtlich ab 1. Mai 2023 sein.
- Das Ticket ist digital als App oder Chipkarte geplant.
Die Zeit vom Auslaufen des 9 Euro-Tickets bis zur Schaffung einer Anschlusslösung haben einige Städte mit Ersatzangeboten überbrückt. Zudem sind Bemühungen der einzelnen Verkehrsverbünde zu erkennen, jetzt schon möglichst viele Abonnent:innen zu gewinnen. Inwiefern dies für die Deklarierung von Einnahmen bzw. -ausfällen relevant wird, bleibt abzuwarten.
Die erwarteten Kosten durch Einnahmeausfälle in Höhe von 3 Mrd. Euro jährlich übernehmen bis zum Jahr 2025 Bund und Länder je zur Hälfte. Eine „Nachschusspflicht“ von Bund und Ländern für tatsächlich entstandene Ausfälle wird es bisher nur für das Einführungsjahr 2023 geben.
Um die Verfahren bei den einzelnen Genehmigungsbehörden abzukürzen, hat der Bund für das Einführungsjahr über eine Festlegung im Regionalisierungsgesetz die Genehmigung des Tarifs für das Deutschlandticket übernommen. Ab nächstem Jahr entfällt diese Genehmigungsfiktion und die Länder sind ab 1. Januar 2024 verantwortlich.
Damit jedoch ist die Finanzierung des Deutschlandtickets nur für die restlichen Monate dieses Jahres gesichert. Bleiben die Kommunen auf sich gestellt, könnte der Abbau von Leistungen drohen. Zugleich wäre der Fortbestand des Deutschlandtickets gefährdet. Die Kommunen als Aufgabenträger benötigen mittelfristige Planungssicherheit und müssen sich darauf verlassen können, dass das Deutschlandticket keine Eintagsfliege bleibt.
Entwicklung von Tarif und Angebot
Die zahlreichen Sondertarife im ÖPNV sind bisher notwendig, um unterschiedliche Bedürfnisse in der Bevölkerung abzubilden. Das Deutschlandticket könnte als günstiges und weitreichendes Angebot an die Stelle dieses mittlerweile unübersichtlichen Tarifdschungels treten. Ein hohes Maß an Transparenz wäre damit gewährleistet. Das Deutschlandticket überwindet Tarifgrenzen und entlastet finanziell. Das 9 Euro-Ticket hat vielen Menschen, die es sich sonst nicht leisten konnten und auch über keinen PKW (nicht mehr oder noch nicht) verfügten, ermöglicht mobil zu sein.
Daher sollte durch weitere überregional, landes- oder bundesweit geltende rabattierte Angebote für bestimmte Personengruppen mehr soziale Gerechtigkeit geschaffen werden. Das saarländische Modell des Jugendtickets oder auch das österreichische Modell des Klimatickets könnten hier Vorbild sein.
Zugleich müssen einheitliche Standards im ÖPNV geschaffen werden. Rheinland-Pfalz hat mit einem neuen Nahverkehrsgesetz verbindliche Erreichbarkeitsstandards geschaffen auch Hamburg und Berlin wollen verbindliche Standards verwirklichen. Festgelegt werden hier Maßgaben für die Erschließung wie beispielsweise die Haltestellendichte, Wege zur Haltestelle, Taktdichte, Betriebszeiten, Fahrtzeiten sowie zur Qualität wie Sicherheit, Pünktlichkeit, Umweltstandards, Barrierefreiheit und zur Integration des Verkehrsangebots.
Insofern ist es dringend geboten die Vorhaben im Koalitionsvertrag der Bundesregierung nun bundesweit konsequent umzusetzen:
„Wir wollen einen Ausbau- und Modernisierungspakt, bei dem sich Bund, Länder und Kommunen unter anderem über die Finanzierung bis 2030 einschließlich der Eigenanteile der Länder und Kommunen und die Aufteilung der Bundesmittel verständigen sowie Tarifstrukturen diskutieren …Gemeinsam werden wir Qualitätskriterien und Standards für Angebote und Erreichbarkeit für urbane und ländliche Räume definieren.“ (S. 39)
Die Mobilitätswende voranbringen
Das Leistungskostengutachten (Oktober 2021) im Auftrag des VDV beziffert den Aufwand für die Mobilitätswende im ÖPNV: die Ausweitung des Angebots, dauerhaft bezahlbare Tarife, eine lückenlose digitale Fahrgastinformation, moderne und barrierefreie Infrastruktureinrichtungen und Fahrzeuge mit sauberen, emissionsarmen Antriebstechnologien bis zum Jahr 2030 auf rund 11. Mrd. Euro zusätzlich.
Zur Finanzierung und Bereitstellung des Angebots in Zukunft braucht es daher klare Regeln. Die in der Ministerpräsidentenkonferenz am 2. November 2022 getroffene Verständigung über finanzielle Mittel erst 2024 zu sprechen, ist wegen der langen Planungs- und Ausschreibungsprozesse für die Aufgabenträger kaum nachvollziehbar. Denn die Mittel können wegen der Ausschreibungsprozesse nur langfristig eingeplant werden. So können die Ziele der Mobilitätswende für das Jahr 2030 ohne Planungssicherheit nicht eingehalten werden.
Daher wird eine Perspektive nicht nur zur Finanzierung des Deutschlandtickets benötigt, sondern des ÖPNV-Ausbaus insgesamt. Die Finanzierung der Einnahmeausfälle, die derzeitigen Krisen und die Folgen der Corona-Pandemie werfen viele Fragen auf. Damit wird die Finanzierung des Ausbaus des ÖPNV zugleich schwieriger aber auch notwendiger.
Die kommunalen Spitzenverbände fordern eine Lösung für die noch ungeklärten Fragen zur Finanzierung, Planung und Organisation des Deutschlandtickets.
Zudem sei die bereits erfolgte Aufstockung der Regionalisierungsmittel durch den Bund um 1 Mrd. Euro für das Jahr 2022 und die Dynamisierung der Mittel in Höhe von 3 Prozent jährlich nicht hinreichend, um den bestehenden Verkehr zu sichern. Der Finanzbedarf bestehe in Höhe von 1,65 Mrd. Euro und die jährliche Kostensteigerungsrate würde bei 4,8 Prozent liegen.
Die Bundes-SGK teilt viele dieser Bedenken und weist zugleich auch auf den personellen und zeitlichen Aufwand hin, der auf Aufgabenträger, Unternehmen und Verbünde zukommt. Trotz dieser Vorbehalte erscheint aus unserer Sicht der jetzt eingeschlagene Weg der richtige.
Nach dem großen Erfolg des 9 Euro-Tickets und der politischen Einigung innerhalb der Ampelkoalition, mit den Ländern und den kommunalen Spitzenverbänden sollte nun nicht mehr die Frage im Vordergrund stehen, ob es das Deutschlandticket flächendeckend geben soll, sondern wie es umgesetzt werden kann. Die großartige Chance, die das Deutschlandticket bietet sollte unbedingt genutzt werden.
Unsere Forderungen:
- Bund, Länder und Kommunen müssen in Zukunft gemeinsam über einen angemessenen und allgemeinverbindlichen Preis für das Deutschlandticket, zusätzliche Sondertarife sowie Anpassungen entscheiden können. Entstehende zusätzliche Kosten müssen gesetzlich abgesichert und dauerhaft auch in Zukunft durch Bund und Länder getragen werden. Nur so kann das Deutschlandticket ein dauerhaftes, einheitliches und günstiges Angebot bleiben. Es darf keine Konstellation eintreten, in der Bund und Länder Preise politisch festlegen und die Kommunen das finanzielle Risiko tragen.
- Der Bund und die Länder müssen daher die Finanzierung der tatsächlich entstandenen zusätzlichen Kosten des Deutschlandtickets auch für die Jahre ab 2024 übernehmen und den Preis für das Ticket stabil halten. Dies umfasst auch eine unbegrenzte Nachschusspflicht für die Folgejahre nach 2023 durch Bund und Länder, falls die im Regionalisierungsgesetz vorgesehenen Mittel nicht ausreichen, um die Einnahmeausfälle in Folge der Einführung des Deutschlandtickets zu kompensieren.
- Die Finanzierung des Deutschlandtickets darf nicht zu Lasten des Ausbaus des ÖPNV gehen. Die Erschließung neuer Nutzergruppen und ein solides Grundangebot in Stadt und Land muss das Ziel sein.
- Die im Regionalisierungsgesetz vorgesehene Evaluierung des Deutschlandtickets sollte auf die im Koalitionsvertrag genannten Ziele (Erhöhung der Fahrgastzahlen im ÖPNV bzw. Verdopplung der Fahrgastzahlen im Bahnverkehr), die Veränderung des Modal Split als auch die Klimawirkung der Preisgestaltung gerichtet sein. Zugleich wäre es wünschenswert, dass Verkehrsunternehmen, die durch innovative Maßnahmen die genannten Ziele überdurchschnittlich erfüllen, zusätzliche Ausgleichszahlungen erhalten sollten.
- Es kann keinen Ausbau des ÖPNV geben, wenn man die Kommunen mit dieser Aufgabe allein lässt. Daher sollten noch in diesem Frühjahr die Ergebnisse der Bund-Länder-Arbeitsgruppe vorgelegt werden und der verabredete Ausbau- und Modernisierungspakt inklusive einer Finanzierungsperspektive umgesetzt werden.
- Die flächendeckende bundesweite Festlegung von Kriterien zur Versorgung mit Verkehrsleistungen wie bspw. Mindeststandards für die Erreichbarkeit von Haltestellen müssen wegen der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse zwischen Bund und Ländern verbindlich vereinbart werden. Auch Übereinkünfte über Ausbau und Finanzierung sollten enthalten sein.
- Die kommunalen Aufgabenträger brauchen mittelfristige Planungssicherheit. Das bundesweite Ticket, der Betrieb, die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der weitere Ausbau brauchen alternative und verlässliche Finanzierungswege neben den Regionalisierungsmitteln und jenen Mitteln aus dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz.
- Es muss gesichert werden, dass die Einhaltung der Mindeststandards bundeseinheitlich ermöglicht wird, also von der individuellen Leistungsfähigkeit einzelner Kommunen unabhängig wird. Dies könnte eine Bund-Länder-Vereinbarung oder ein Mobilitätsgesetz leisten, deren oder dessen Inhalte die Länder mit eigenen Regelungen umsetzen müssen.
- Die Zukunft des ÖPNV ist abhängig davon, ob es gelingt, Menschen zu gewinnen, die im ÖPNV arbeiten wollen. Aktuell fehlen zehntausende Busfahrer:innen, bis 2030 sind 110 000 Stellen aus demographischen Gründen neu zu besetzen – ein Ausbau des ÖPNV noch nicht mitgerechnet. Um Personal zu gewinnen, müssen die Arbeitsplätze im ÖPNV attraktiver werden. Bessere Arbeitsbedingungen und die Bereitstellung der dafür notwendigen Finanzierung sind der Schlüssel zum Erhalt und Ausbau des bestehenden Angebots.
Beschluss des Vorstandes der Bundes-SGK vom 17. März 2023