DEMO Impulse Nr. 8 / Oktober 2017 "Pflegepolitik in Deutschland"

Autor/innen: 
Simone Prühl, Wilhelm Schmidt, Sabine Bätzing-Lichtenthaler, Magnus Jung, Burkhard Hintzsche
Erscheinungsjahr: 
2017

Deutschland hat ein gutes Gesundheitssystem, um das uns viele Länder beneiden. Auch das System der Pflege funktioniert weitaus besser als in vielen anderen Ländern. Die drei Säulen aus informeller (familiärer), ambulanter und stationärer Pflege beweisen Tag für Tag ihre Leistungsfähigkeit – für rund 2,6 Millionen Pflegebedürftige.

Zugleich ist unstrittig, dass es Reformbedarf gibt. Gut ist eben nicht sehr gut. Experten monieren es seit langem, und gerade in den letzten Tagen des zurückliegenden Bundestagswahlkampfes wurde klar: Es gibt schon heute gravierende Mängel im Pflegesystem, und fit für die Zukunft ist es auch nur bedingt. Strukturen und Finanzierungswege, die für 2,6 Millionen Pflegebedürftige funktionieren, werden an Grenzen stoßen, wenn es einerseits noch mehr Pflegebedürftige geben wird und andererseits weniger Pflegende diese Aufgaben übernehmen können.

Durch den demografischen Wandel steht die Pflege in Deutschland vor großen Herausforderungen. Im Jahr 2013 gab es laut dem „Pflegeheim Rating Report“ des RWI Essen, 2,6 Millionen pflegebedürftige Menschen, davon wurden 764.000 vollstationär und 616.000 durch ambulante Dienste versorgt, der überwiegende Rest erhielt Pflegegeld. Bis 2020 ist mit etwa drei Millionen Pflegebedürftigen zu rechnen, bis 2030 sogar mit 3,4 bis 3,5 Millionen Pflegebedürftigen – das wären rund eine Million mehr als heute. Wenn man davon ausgeht, dass der jetzige Anteil an Pflege- und Heimquote gleich bleibt, werden bis 2030 bis zu 321.000 neue stationäre Pflegeplätze benötigt. Zur Einordnung dieser Zahl: Die Anzahl der Pflegeheime stieg zwischen 1999 und 2013 um 47 Prozent von 8859 auf 13.030. Dabei erhöhte sich die Zahl der verfügbaren Plätze von rund 645.000 auf 903.000. Zur Deckung der Nachfrage bis 2030 sind voraussichtlich weitere 30 Milliarden Euro an Neu-Investitionen nötig, und zur Substanzerhaltung bereits bestehender Einrichtungen weitere rund 40 Milliarden Euro.

Weitgehend Konsens ist deshalb das politische Ziel, „ambulant vor stationär“ zu stellen und Menschen soweit möglich die Chance zu geben, auch im Falle von Krankheit und Pflegebedürftigkeit in ihren eigenen vier Wänden bleiben zu können. Das ist nicht nur volkswirtschaftlich sinnvoll, sondern auch rein menschlich geboten. Jeder kennt den Satz „Einen alten Baum verpflanzt man nicht.“ Jeder hat bei Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern erlebt, wie schwer der Abschied ins Alten- oder Pflegeheim fällt, geht der doch nicht nur mit Verlust von Autonomie und Platz einher, sondern auch mit einem Verzicht auf das Gewohnte und oftmals Geliebte. Wie realistisch jedoch dieses Ziel ist, steht auf einem anderen Blatt. Schon heute lässt sich nicht jeder Pflegebedarf in häuslicher Atmosphäre abdecken. Für viele ist die umfassende Betreuung in einer stationären Pflegeeinrichtung die beste pflegerische Versorgung mit dem besten Preis-Leistungs- Verhältnis: Qualifizierte „rund um die Uhr“ Versorgung, behördliche Qualitätsüberwachung, bauliche und hygienische Standards. Auch künftig sollte wohl deshalb die ehrlichere Richtschnur „ambulant und stationär“ lauten.

Ein weiteres entscheidendes Hindernis für eine ausreichende Pflegeversorgung ist der Fachkräftemangel. Im März 2015 lag die Zahl der gemeldeten offenen Stellen bei Heimen mehr als dreimal so hoch wie im März 2007. Bis 2030 werden insgesamt 128.000 bis 245.000 zusätzliche Vollzeitkräfte in der stationären und 63.000 bis 124.000 in der ambulanten Pflege benötigt. Bei Pflegefachkräften wird ein Bedarf von 106.000 bis 156.000 erwartet. Verschärft wird dieser Personalmangel durch geänderte Familienstrukturen. Durch Berufstätigkeit, bundesweite Mobilität und Individualisierung der Gesellschaft stehen immer weniger Angehörige zur familiären Pflege zur Verfügung. Zugleich sollte gerade für die Sozialdemokratie als Partei der Frauenemanzipation klar sein: Niemand darf zur familiären Pflege gezwungen und aus dem Beruf gedrängt werden. Das ausreichende Angebot an stationären Pflegeplätzen gehört ebenso zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf wie das ausreichende Angebot an Kindertagesplätzen!

Um all diese Themen geht es in der aktuellen Ausgabe der Demo-Impulse. Die vier Beiträge beleuchten, wie eine solidarische und zukunftsfähige Pflegepolitik aussehen sollte, was konkret gegen Fachkräftemangel getan werden kann und wie Pflege ganz praktisch auf kommunaler Ebene organisiert werden kann. Allen Leserinnen und Lesern viel Vergnügen bei der Lektüre dieses Heftes.