Beschlüsse Delegiertenversammlung

Positionspapier "Das Soziale im Quartier - Eine Chance für moderne soziale Politik in den Kommunen"

Beschluss der Delegiertenversammlung der Bundes-SGK am 22./23. April 2016 in Potsdam
23. April 2016

Für die Menschen ist ihr Quartier der wichtigste Ausgangspunkt für Teilhabe und Engagement. Das Quartier ist der Ort, an dem sie ihre Lebensentwürfe umsetzen. Die konkreten Möglichkeiten, die das Quartier bietet, beeinflussen die Chancen seiner Bewohnerinnen und Bewohner, sich entfalten und entwickeln zu können. Die Wohnung und unmittelbare Wohnumgebung, die Ausgestaltung und Sicherheit öffentlicher Räume, Bildungsmöglichkeiten, verkehrliche Anbindung und die Versorgungsstrukturen der Grundbedürfnisse bestimmen die Lebensqualität und die Perspektiven der Bewohnerinnen und Bewohner.

Mit dem Plädoyer für eine soziale Quartierspolitik möchte die SGK Impulse liefern, wie Bewohnerinnen und Bewohner, Verbände, Politikerinnen und Politiker  und Verwaltung diese Gestaltungsprozesse gemeinsam angehen können. Hierbei sehen wir das Engagement der Menschen, die in den Quartieren leben und arbeiten, als eine zentrale Kraft quartiersbezogener Entwicklung. In den vergangenen Jahrzehnten haben die Städte und ihre Quartiere bewiesen, dass sie über große soziale Integrationskräfte verfügen und außergewöhnliche soziale und ökonomische Entwicklungschancen bieten.

Die Delegiertenversammlung der Bundes-SGK fordert den Vorstand der Bundes-SGK deshalb auf, das Thema „Soziale Quartiersentwicklung“ in seinen Arbeitsgremien aufzugreifen.

Sozialer Segregation entgegen wirken

Mit der zunehmenden Spaltung unserer Gesellschaft haben sich auch die Quartiere spürbar auseinanderentwickelt. Bestätigt wird diese problematische Entwicklung durch den vierten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung von 2013. Er zeigt auf, dass das Quartier und die soziale Herkunft über Bildungsgrad, Aufstiegschancen und Armutsprävention entscheiden. Das Quartier kann Wohlstand und Perspektiven eröffnen, aber auch verringern. Verbunden mit der Angst vor sozialem Abstieg erklärt dies nicht zuletzt die bei der Wohnungsort- und Schulwahl zu beobachtenden Abgrenzungstendenzen.

Ziele einer sozialen Quartierspolitik

Ein lebenswertes Quartier ist ein Quartier, mit dem sich die Bewohnerinnen und Bewohner identifizieren und das von Menschen der umliegenden Quartiere genutzt und geschätzt wird. Es ist ein aktives Quartier, in dem viele Bewohnerinnen und Bewohner sich beteiligen und engagieren und das von einem respektvollen Umgang miteinander geprägt ist. Das erfordert eine ganzheitliche Quartierspolitik, deren Gestaltungsanspruch den Menschen in den Mittelpunkt ihres Handelns stellt. Das Quartier gemeinsam mit und für die Bewohnerinnen und Bewohner weiterzuentwickeln macht es daher auch erforderlich, die zunehmende Vielfalt an sozialen Lagen, Interessen und Wertvorstellungen zu beachten.

Diese soziale und kulturelle Vielfalt kann dadurch gesichert werden, dass möglichst allen Bevölkerungsschichten und Familientypen der Verbleib im Gewohnten sowie der Zuzug ins Quartier möglich bleiben. Dies erfordert, die Verdrängung und Ausgrenzung einkommens-schwächerer Haushalte zu verhindern und damit ökonomische Armut von sozialer Ausgrenzung zu entkoppeln. Eine Aufgabe sozialer Quartierspolitik ist es daher, die Vielfalt – zu der auch die Gegensätze gehören – so aufzugreifen, dass gruppenübergreifende Wertschätzung sowie Solidarität, Chancen, Zugang, Lebensqualität und Stabilität im Quartier gestärkt werden.

Funktionale Vielfalt des Quartiers gewährleisten – Versorgung sicherstellen

Ein lebendiges, sicheres und attraktives Quartier zeichnet sich durch ein quantitativ und qualitativ ausreichendes Angebot an Wohnungen, Schulen, Kindergärten, Einkaufsmöglichkeiten, Gewerbeflächen, unterschiedlichen Arbeitsplätzen, Einrichtungen medizinischer Versorgung, Grünflächen, Erholungs-, Freizeit- und Sportangeboten sowie kulturellen Einrichtungen aus. Versorgung muss aber nicht immer fest verankert sein, sondern kann auch mit innovativen Konzepten bereitgestellt werden. So kann beispielsweise mit mobilen medizinischen Versorgungs-einrichtungen, Telemedizin, mobilen Bibliotheken, tageweisen Märkten oder mobilen Verkaufs-ständen die Versorgung zum Mensch, aber auch mit Transportangeboten der Mensch zu ihnen gebracht werden.
 
So können kleinere Supermärkte genossenschaftlich im Quartier organisiert werden. Ihre Entwicklung lässt sich dadurch fördern, dass ihnen preiswerte Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt werden. Erstanschaffungen von lokal verankerten Einrichtungen und mobile Angebote sollten unterstützt werden. Erforderlich sind neue Bündnisse für soziale Quartiere, in denen Kommunen, Wirtschaft und Zivilgesellschaft gemeinsam das Quartier neu denken und stehende Angebote stabilisieren sowie neue, alt hergebrachte und bewährte sowie innovative Versorgungsformen lokal etablieren. Zugleich sollten öffentliche Infrastruktur (Schulen, Bibliotheken, Grünflächen, Gesundheitszentren) und Versorger gezielt in das ÖPNV Netz eingebunden werden. Bei Neuansiedlungen ist eine Anbindung  an bestehende ÖPNV Haltestellen zu gewährleisten.

Beteiligung, Engagement und Eigeninitiative fördern

Um Entwicklungen im Quartier frühzeitig zu erkennen und gestalten zu können sowie Gerechtigkeit und Chancengleichheit zu gewährleisten, bedarf es einer aktiven und ganzheitlichen Quartierspolitik. Sie macht es sich zum Ziel, den vorhandenen Gestaltungswillen der Bewohnerinnen und Bewohner im Quartier zu stärken und das Engagement der Menschen, Wirtschaft und öffentlichen Institutionen vor Ort zu unterstützen.

Um dies zu erreichen, müssen Kommunen auch Vermittler zwischen den Akteuren und Dienstleister sein. Bürgerinnen und Bürger und Gewerbetreibende sind durch offene und transparente Beteiligung als Expertinnen und Experten für ihre Quartiere einzubinden, da sie täglich mit Problemstellungen im Wohnumfeld konfrontiert sind und die Potenziale ihres Quartiers kennen. Ihre spezifischen Kenntnisse, Fähigkeiten, Interessen und Handlungsmöglichkeiten gilt es zudem durch eine aktive Unterstützung ihres vielfältigen Engagements für Mitmenschen und das Quartier zu nutzen.

Handlungsfeld Wohnen und Wohnumfeld

Soziale Quartierspolitik bedeutet, eine ausgewogene Mischung verschiedener Mietniveaus in einem Quartier anzubieten, um soziale Vielfalt bereits im Wohnungsangebot vorzugeben. Deshalb sollen bei allen Bauvorhaben mit mehr als 12 Wohneinheiten 30% mit Sozial- und Einkommens-bindung realisiert werden. Dies kann die Stadt über ihr satzungsmäßiges Baurecht festlegen.
Darunter fallen auch Wohnungen für geringe und mittlere Einkommen.

Es gilt, Übergänge von Lebensphasen im Quartier gestalten zu können. Das bedeutet nicht den Verbleib in ein und derselben Wohnung, aber im selben Quartier. Entscheidend für einen Wohnungswechsel sind vor allem die finanziellen Möglichkeiten, aber auch, welche Chancen sich für einen Wohnungswechsel bieten. Kommunale und private Wohnungsanbieter müssen
hier helfen, indem sie unbürokratisch und finanziell unproblematische Lösungen anbieten. Dazu zählen Wohnungstauschbörsen und Umzugshilfen, um gerade auch in weniger flexiblen Lebensphasen den Verbleib im Quartier zu erleichtern.

Gestaltungsräume in der Quartiersentwicklung gemeinsam nutzen

Private und städtische Vermieterinnen und Vermieter sollen darin gestärkt werden, funktionierende Quartiere als Mehrwert für ihre Wohnungen, für die Bewohnerinnen und Bewohner, für deren Verweildauer in den Wohnungen, aber auch für die Akzeptanz und Anerkennung des Quartiers zu verstehen und sie dementsprechend mit den Bewohnerinnen und Bewohner zu gestalten.

Ein wirksames Mittel, um Gestaltungsspielräume im Quartier zu nutzen, ist die Konzeptvergabe öffentlicher Flächen. Hier erhält nicht der Höchstbieter sondern die Person mit dem Nutzungs-konzept, dass die Anforderungen des Quartiers und der Stadt am besten umsetzt, den Zuschlag für das Bauland. Dabei sollte das Grundstück nicht verkauft, sondern als Erbpacht mit klaren

Zielvorgaben vergeben werden, sodass die Kommune langfristig die Entwicklung des Quartiers beeinflussen kann.

Die verbindende und gleichzeitig aber auch begrenzende Gestaltung von Grün-, Spiel-, Sport- und Erholungsflächen in öffentlichen Räumen können den verschiedensten Quartiersbewohnerinnen und –bewohner einerseits gemeinschaftliche Flächen zur Begegnung bieten, schirmen aber auch andere verschiedene Nutzungsformen voreinander ab.

Handlungsfeld Bildung

Bildung ist ein Grundbedürfnis und ein Grundrecht. Sie muss für alle gleichermaßen und nach Möglichkeit ein Leben lang zugänglich sein. Als Schlüssel zur Verminderung von Armutsrisiko stärkt Bildung auch die Quartiere und wertet diese auf. Soziale Quartierspolitik erfordert deshalb die für integrative Bildung notwendigen Investitionen, aber ebenso Strukturen, die Schulen gesell-schaftlich im Quartier verankern.

Gerade benachteiligte Quartiere müssen deshalb über die besten Schulen verfügen, um Chancengleichheit zu gewährleisten und Raum für positive Entwicklungen zu eröffnen. Funktionierende, sich positiv entwickelnde Schulen können der Flucht aus den Quartieren entgegenwirken und zum positiven Impulsgeber werden.

Schulen, Kinderkrippen und Kindergärten – besonders im Ganztagsbetrieb – sind Orte mit der höchsten Verweildauer für Kinder und Jugendliche pro Wochentag. Sie sind in der Lage, die für ein selbstbestimmtes Leben erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten zu vermitteln. Deshalb müssen Bildungseinrichtungen, vom Kindergarten über die Grundschule bis zu weiteren Schulformen, in allen Quartieren und ganz besonders in benachteiligten Quartieren ertüchtigt und gestärkt werden.

Benötigt wird eine offene, stadteilbezogene Schule, die Wissen vermittelt, für Belange des Stadtteils da ist, aber auch Schutz der Kinder vor Übergriffen von außen sichert. Erforderlich hierzu sind Bildungsverbünde – die alle Nutzungsformen der Schule und der Formen der Wissensvermittlung zusammenführen. Eltern- und Förderverein, Volkshochschulen, Bibliotheken, Vereine, Musik-schulen und viele andere mehr müssen gemeinsam mit Politik und Verwaltung neue Formen des gemeinsamen lebenslangen Lernens ermöglichen. Sinnvoll hierfür sind gemeinsam erstellte quartiersbezogene Bildungspläne, die alle Angebote zusammenführen.

Handlungsfeld Arbeit und lokale Wirtschaft

Ein lebendiges, lebenswertes Quartier hat nicht nur Räume zum Wohnen, Bilden, Versorgen und Erholen, sondern bietet vielfach auch Orte für Handwerk, Selbstständige, für kleine und mittlere Unternehmen (KMU). Das Vorhandensein von Unternehmen im Quartier stärkt das Quartier aber auch den sozialen Zusammenhalt, denn es führt auch zu einer anderen unternehmerischen Ethik – zu einer lokalen gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen. Nur wenn Unternehmen lokal verankert sind, können sie sich wie alle anderen Akteure aktiv in die Entwicklung des Quartiers einbringen – wovon alle profitieren.

Mit dem Ansatz einer sozialen Quartierspolitik möchten wir deshalb auch Impulse dafür geben, die lokale Wirtschaft in den Quartieren zu stärken. Selbst wenn lokale Arbeitsplätze nicht vorrangig von den Bewohnerinnen und Bewohnern belegt werden, beleben Selbstständige und die KMUs das Quartier. Mit ihren Beschäftigten und Kundinnen und Kunden bringen sie Besucherinnen und Besucher in das Quartier, Menschen, die die lokalen Geschäfte, Restaurants oder Cafés nutzen – was auch zur besseren Auslastung des öffentlichen Nahverkehrs beiträgt. Zugleich bieten sie viele Ausbildungsplätze. All das ist aus unserer Sicht Teil eines lebenswerten Quartiers.
 
Wichtig ist es in den Quartieren, mit offenen und flexiblen Räumen über Zonen für verschiedene und sich verändernde Nutzungen und Nutzungsformen zu verfügen, um so vielen Menschen Angebote und Entwicklungen der lokalen Unternehmen zu ermöglichen. Das können zum einen Räume für Start-ups sein, aber auch für das Co-Working und neue Formen von Quartierszentren (Computer-Clubs, Gaming Zones). In den Wohnquartieren der 1970er bis 1980er Jahre fehlen diese Räume baulich, daher sollten bei der Innenentwicklung solche Räume geschaffen werden.

Neben der Einbeziehung der regionalen Wirtschaft in die Quartierspolitik fordern wir, alle kommunal verantworteten Wirtschaftsbereiche in ihrer unternehmerischen Positionierung an sozialen Kriterien und der Entwicklung des Quartiers auszurichten.

Handlungsfeld Mobilität

Mobilität ist wichtig für die Teilhabe am öffentlichen Leben und die Chancen jeder und jedes Einzelnen, sich entfalten und entwickeln zu können. Soziale Quartiersentwicklung muss somit allen Menschen Mobilität ermöglichen – und wertet damit Quartiere auf und verbessert die Chancen der Bewohnerinnen und Bewohner. Deshalb sollten die Quartiere sehr gut in das Netz öffentlicher Verkehrsmittel eingebunden sein und eine aktive Mobilität, zu Fuß gehen oder mit dem Fahrrad fahren oder eine Multi-Modalität unterstützen. Gleichzeitig muss sichergestellt werden, dass zentrale Funktionen eines Quartiers an den ÖPNV angeschlossen sind.

So ermöglichen wir den Bewohnerinnen und Bewohnern, aber auch anderen Menschen, das Quartier und seine Angebote zu erreichen. Eine gute, quartiersgerechte Verkehrspolitik wertet den öffentlichen Raum auf. Sie ermöglicht, dass Straßen und Gehwege von allen Menschen genutzt werden können, und stellt sicher, dass Spielen, sich begegnen und miteinander kommunizieren, möglich ist. Hierzu sind Tempo-30-Zonen, Fußgängerüberwege, Verkehrsinseln und weniger Parkplätze erforderlich.

Inklusion im Quartier

Inklusion im Quartier bedeutet eine umfassende und uneingeschränkte Teilhabe jedes Einzelnen am gesellschaftlichen Leben. Ziel ist die aktive Teilhabe von Menschen mit Behinderungen, indem ein barrierefreies Umfeld im Quartier geschaffen wird. Das schließt ausdrücklich das Recht auf Bildung ein. Inklusive Bildungsangebote ermöglichen also Schülerinnen und Schülern mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung den barrierefreien und gleichberechtigten Zugang zu allen allgemeinen Angeboten des Unterrichts und der Erziehung in der Schule sowie zu den Angeboten der verschiedenen Bildungsgänge und des Schullebens. Inklusive Schulen sind dadurch gekennzeichnet, dass an diesen Schulen alle Schülerinnen und Schüler unterrichtet werden und ihren individuellen Bedürfnissen Rechnung getragen wird.

Praktisch bedeutet dies, dass an solchen Schulen sehr unterschiedliche Lerngruppen zu finden sind, "normale" Kinder, hochbegabte Schülerinnen und Schüler, aber auch Jungen und Mädchen mit erheblichen Handicaps wie z.B. schwere Intelligenzminderung, Gehörlosigkeit, körperliche und motorische Einschränkungen. In der Praxis erhalten Schülerinnen und Schüler eine spezielle sonderpädagogische Begleitung, wenn ihre individuellen Handicaps dies erfordern.

Damit die Teilhabe von Menschen mit Behinderung möglich wird, ist es erforderlich, dass alle Schülerinnen und Schüler die sonderpädagogischer Unterstützung bedürfen, diese auch bekommen. Dies schließt auch das „Freie Wahlrecht“ für Eltern zwischen allgemeinen Schulen und Förderschulen ein. Voraussetzung hierfür ist wiederum, dass für alle Schülerinnen und Schüler die beste Förderung bereitgestellt wird. Unerlässlich im Zusammenhang mit gesellschaftlicher Teilhabe ist die Einrichtung von Inklusionslotsen in den Quartieren, die zwischen den Ämtern der Gemeindeverwaltung vermitteln.