Schaffung gleichwertiger Lebensbedingungen
Beschluss der Delegiertenversammlung der Bundes-SGK
am 23./24. November 2018 in Kassel
Vorbemerkung:
Im Koalitionsvertrag von SPD/CDU/CSU wird das Thema der gleichwertigen Lebensbedingungen in besonderer Weise hervorgehoben. Am 18. Juli 2018 hat das Bundeskabinett zur Erarbeitung von Maßnahmen zur Verbesserung eine Kommission unter Leitung des Bundesinnenministers einberufen. Die Bundes-SGK tritt dafür ein, dass wie im Koalitionsvertrag vereinbart, bereits in 2019 Vorschläge für ein verbessertes gesamtdeutsches Fördersystem als Weiterentwicklung der beiden Gemeinschaftsaufgaben zur Verbesserung der regionalen Wirtschafsstruktur und zur Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes (GRW und GAK) unterbreitet werden sollen.
In der Europäischen Union findet zugleich eine Diskussion über die Ausstattung des EU-Haushaltes und die Zukunft der Kohäsionspolitik mit Ihren Fonds (EFRE, ESF, ELER …) für die Förderperiode von 2021 bis 2027 statt. Ein neues gesamtdeutsches Fördersystem wird sich in das europäische Fördersystem integrieren müssen.
Die Bundes-SGK hat in diesem Beschluss grundsätzliche Anforderungen an die Zukunft der Raumordnungs- und Kohäsionspolitik formuliert, die bei der Arbeit der Kommission zum Thema „Gleichwertige Lebensbedingungen“ berücksichtigt werden sollten.
Schaffung gleichwertiger Lebensbedingungen
Der Begriff der gleichwertigen Lebensbedingungen (in allen Teilräumen) bezieht sich auf die Unterschiede, die zwischen den vielen Teilräumen (Regionen) hinsichtlich ihrer infrastrukturellen Ausstattung, ihrer Wirtschaftskraft, ihres Arbeitsmarktes und der damit verbundenen Chancen der Bevölkerung auf Teilhabe und Aufstiegsmöglichkeiten in der Gesellschaft bestehen.
Gleichwertige Lebensbedingungen in allen Teilräumen ist die räumliche Konkretisierung des Zieles, Chancengleichheit für alle zu schaffen. So wie die Sozialdemokratie dafür eintritt, kein Kind zurückzulassen, Zugang zu Bildung und Arbeit unabhängig von der Herkunft zu ermöglichen, muss es auch Ziel sein, dass in jeder Region Chancen auf Teilhabe und Aufstieg gegeben sind. Niemand darf wegen seiner regionalen Herkunft benachteiligt werden.
Bei dieser Zielsetzung muss deutlich gesagt werden, dass es nicht darum gehen kann, gleichartige Lebensverhältnisse zu schaffen. Die historisch gewachsenen Unterschiede und Eigenarten jeder Region stellen vielmehr einen unschätzbaren Eigenwert dar, den es unbedingt zu erhalten gilt. Es geht um die Chancen, die überall gegeben sein sollten, und es geht darum, einem immer größeren räumlichen Auseinanderklaffen von reich und arm entgegenzuwirken. Es geht darum, Menschen die Möglichkeit zu bieten, sich für Ihre Heimat und Region zu entscheiden, weil sie dort ein gutes Leben führen können und sie nicht dazu gezwungen sind, abzuwandern. Es geht darum, Stärken und Schwächen gleichermaßen zu kennen und zukunftsweisende Profile zu entwickeln.
In der Europäischen Union mit der Freizügigkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Ansiedlungsfreiheit der Unternehmen begründet dieses eine Kohäsionspolitik, die allen Mitgliedsstaaten eine starke Entwicklung ermöglichen soll. Es begründet auch eine Politik, die auf gleichwertige soziale Systeme setzt und somit soziale Mindeststandards in den Blick nimmt.
Neben der Ausgleichspolitik auf europäischer Ebene bedarf es auch auf nationaler Ebene besserer Ausgleichsmechanismen, um der zunehmenden Ungleichheit zwischen den Regionen und ihren Städten, Gemeinden und Kreisen entgegenzuwirken. Mit dem Raumordnungsbericht 2017 hat die Bundesregierung bereits in der letzten Legislaturperiode auf die räumlichen Unterschiede bei der demografischen Entwicklung, die ungleiche Finanzausstattung der Kommunen und die begrenzten Spielräume bei der Sicherung der örtlichen Daseinsvorsorge hingewiesen. Und auch die Entwicklung kommunaler Sozialausgaben weist eine unterschiedliche Betroffenheit der Kommunen auf. Der Handlungsbedarf ist bekannt.
Jetzt gilt es zu handeln. Die Bundes-SGK fordert die Kommission „Gleichwertige Lebensbedingungen“ auf, Ihre Arbeit unverzüglich aufzunehmen und dafür Sorge zu tragen, dass die Ergebnisse der Kommissionsarbeit noch in dieser Legislaturperiode umgesetzt und direkt mit dem Regierungshandeln verknüpft werden.
Wir sind uns bewusst, dass innerhalb der Städte, der Landkreise und Regionen sich die Lebensverhältnisse ebenfalls sehr unterschiedlich entwickeln. Insofern bestehen in fast allen Regionen Handlungsnotwendigkeiten zur Verbesserung der Chancengerechtigkeit. Dieses darf aber nicht den Blick darauf verstellen, dass die Unterschiede zwischen den Regionen als Ganzes zunehmen und deshalb ein Handlungsbedarf zur Unterstützung strukturschwacher Regionen besteht und Hauptgegenstand der Kommission „Gleichwertige Lebensbedingungen“ sein muss.
Die Bundes-SGK betont folgende grundsätzliche Anforderungen:
1. Die Arbeit der Kommission muss sich unabhängig von der siedlungsstrukturellen Charakterisierung der Teilräume (Stadt oder Land) auf jene Teilräume beziehen, die in besonderem Maße von Strukturschwächen betroffen sind und unter den Problemen hoher Soziallasten, Finanzkraftschwäche, Abwanderung und hoher Arbeitslosigkeit leiden. Es gibt sowohl prosperierende wie strukturschwache ländliche Räume, genauso wie wachsende Städte und strukturschwache Städte, die unter dem Niedergang örtlicher Industrien und einem wirtschaftlichen Strukturwandel leiden.
2. Um die Lebensbedingungen in strukturschwachen Regionen zu verbessern, wäre eine deutlich verbesserte Finanzausstattung ihrer Kommunen der beste Weg. Durch die Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung und verfügbarer Finanzmittel in strukturschwachen Kommunen bestehen die besten Möglichkeiten auf örtlich angepasste Bedarfe zu reagieren und lokale Entwicklungsmöglichkeiten zu nutzen.
3. Die Bundes-SGK begrüßt, dass die Kommission eine eigene Arbeitsgruppe zu dem Thema „Kommunale Altschulden“ bilden wird. Die Behandlung der Altschuldenthematik gehört ohne Zweifel zur Frage der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse. Die Bundes-SGK sieht, dass die Aktivitäten der Länder zur Lösung dieser Problematik nicht hinreichend sind. Insofern sollte der Bund die Chancen der noch andauernden Niedrigzinsphase nutzen, um ergänzende Hilfsangebote beim Abbau kommunaler Altschulden zu schaffen. Ohne Lösung der Altschuldenproblematik wird eine nachhaltige Entlastung der betroffenen Kommunen nicht möglich sein.
4. Die strukturelle Belastung der Kommunen durch stetig wachsende Sozialausgaben schränkt insbesondere in strukturschwachen Städten, Gemeinden und Kreisen die eigenen Handlungsmöglichkeiten ein. Deshalb gilt es, hier Entlastungsmöglichkeiten zu finden und damit zugleich den Rückgewinn kommunaler Investitionsmöglichkeiten auf den Weg zu bringen. Die Bundes-SGK vertritt weiterhin die Auffassung, dass eine Entlastung der Kommunen von den Kosten der Unterkunft im SGB II auch im Falle einer dann eintretenden Bundesauftragsverwaltung ein sinnvoller Weg der Entlastung ist.
5. Fördersysteme stellen grundsätzlich nur ein Mittel zweiter Wahl dar. Sie schränken in der Regel kommunale Entscheidungsmöglichkeiten ein und sind weniger flexibel für die Lösung örtlicher Problemlagen zu nutzen. Sie bleiben in Europa und unserem föderalen Nationalstaat aber eine notwendige Ergänzung über die eigene Selbstverwaltungskraft hinaus.
6. Um den dringenden gesamtgesellschaftlichen Problemlagen und Aufgaben zu begegnen, muss der Bund sich an den hierfür erforderlichen Investitionen beteiligen. Deutschland braucht eine Infrastrukturoffensive für eine nachhaltige Revitalisierung seiner Infrastruktur. Diese betrifft sowohl die technischen Infrastrukturen (Erhalt und Umsetzung von Innovationen) als auch die soziale Infrastruktur. Schließlich muss auf die Anforderungen nicht funktionierender Wohnungs- und Immobilienmärkte reagiert werden.
· Infrastrukturausbau im Bereich der digitalen Infrastruktur (Glasfaser-Breitband und G5-Netze, WLAN … ). Wir fordern einen Rechtsanspruch auf Breitbandzugang als Teil der kommunalen Daseinsvorsorge.
· Verstärkte Förderung der gesamten Verkehrsinfrastruktur (Erhalt und Ausbau) mit einem Schwerpunkt im Öffentlichen Nahverkehr sowohl in den Verflechtungsräumen der Verdichtungsräume wie auch den ländlichen Räumen zwischen den größeren Stadtregionen ohne eigenen Verkehrsverbundstrukturen
· Verstetigung der Investitionen in Kitas und Ganztagsschulen, sowohl hinsichtlich der Frage der Qualität als auch der Verfügbarkeit
· Ausbau der Hochschulen und Forschungseinrichtungen insbesondere auch in strukturschwachen Räumen
· Verstetigung der öffentlichen Förderung im Bereich des sozialen Wohnungsbaus auf dauerhaft höherem Niveau
· Ergänzung der Wohnungsbauförderung durch Instrumente zum Aufkauf und der Instandhaltung oder dem Abriss von Immobilien in Abwanderungsregionen
7. Ein gesamtdeutsches Fördersystem für strukturschwache Regionen mit der Weiterentwicklung der bisherigen Gemeinschaftsaufgaben „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ und „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ sollte einen flexiblen Rahmen schaffen, der es erlaubt, jeweils spezifische auf die jeweilige Region mit ihren besonderen Stärken und Schwächen ausgerichtete Maßnahmen und Aufgaben zu unterstützen und umzusetzen.
Ein solches Fördersystem des Bundes bezieht seine Legitimation aus Art. 72 (2) des GG: „Auf den Gebieten des Artikels 74 Abs. 1 Nr. 4, 7, 11, 13, 15, 19a, 20, 22, 25 und 26 hat der Bund das Gesetzgebungsrecht, wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht.“ Aus Sicht der betroffenen Regionen und ihrer Gebietskörperschaften sollten nach der Identifizierung förderungsfähiger Regionen (Städte und Kreise) Budgets für eine möglichst breite Verwendung bereitgestellt und auf der Grundlage eigener Entwicklungspläne in den jeweiligen Regionen eingesetzt werden. In vielen Regionen kann dabei an verschiedene Vorarbeiten und Zusammenhänge angeknüpft werden. Es gilt zu klären, wie das Verhältnis verschiedener Programmebenen und Ressorts zueinander aussehen muss, damit zielgenauere Umsetzungsstrukturen erreicht und neue Bürokratie vermieden werden.
8. Die Weiterentwicklung der GA Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur sollte im Sinne der Verbesserung der wirtschaftsnahen Infrastruktur verstärkt für eine Förderung der Digitalisierung und die Stärkung innovativer Kräfte in den Regionen genutzt werden können.
9. Die Weiterentwicklung der GA Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes sollte sowohl die Sicherung der Daseinsvorsorge und insbesondere auch die Sicherstellung der gesundheitlichen Versorgung in den ländlichen Räumen in den Blick nehmen als auch für Maßnahmen im Bereich des Umbaus der Landwirtschaft und Klimaanpassungsmaßnahmen offen sein.
10. In den strukturschwachen ländlichen Räumen brauchen wir die Unterstützung der positiven Kräfte und des Engagements der Bevölkerung für die eigene Region. Es gilt Ideen zu fördern und Initiativen zu unterstützen, die einen Beitrag zur Attraktivitätssteigerung darstellen. Der Bund sollte die Gebietskörperschaften für diese Aufgabe stärken. Dort, wo Schrumpfungsprozesse stattfinden, wird es notwendig sein, das Zentrale-Orte-Prinzip flexibler zu interpretieren. Anstelle von Ausstattungskatalogen müssen die funktionalen Ziele stehen. Deren Umsetzung werden Gemeinden und Kreise im verstärkten Maße durch interkommunale Zusammenarbeit und in Netzwerken vollziehen. Individuellen Lösungen und kreativen Ansätzen muss Raum gegeben werden.
11. In strukturschwachen Städten altindustrialisierter Regionen gibt es vielfältige Aufgaben des Stadtumbaus. Hier muss das städtebauliche Instrumentarium für die Revitalisierung von Brachen und Konversionsflächen und zur Entwicklung attraktiver Standorte genutzt werden. Die Stadtentwicklung dieser Städte sollte als Zukunftslabor zur Lösung von Fragen der Energie- und Verkehrswende in städtischen Verdichtungsräumen werden. Hier muss die modernste digitale Infrastruktur entstehen und die dazugehörige Wissenschaftsinfrastruktur angesiedelt werden.
12. Es muss sichergestellt werden, dass sich auch künftig ein nationales Fördersystem in den europäischen Rahmen einfügt. Dazu ist es erforderlich, dass auf europäischer Ebene der Haushalt der EU so ausgestattet ist, dass eine umfassende europäische Kohäsionspolitik auch in der kommenden Förderperiode möglich bleibt. Aus deutscher Sicht gilt es gegenüber der EU-Kommission deutlich zu machen, dass eigene nationalstaatliche Ausgleichssysteme, wie das angestrebte gesamtdeutsche Fördersystem für strukturschwache Regionen, nicht an beihilferechtlichen Prüfungen scheitern dürfen.