Positionspapier
Beschlüsse Vorstand

Positionspapier "Bundesteilhabegesetz: Mehr Rechte für Menschen mit Behinderungen sind nötig, dürfen aber nicht zu Lasten der Kommunen gewährt werden"

24. Juni 2016

Sachstand

1.)    Das Bundesteilhabegesetz (BTHG) ist eines der größten sozialpolitischen Vorhaben dieser Legislaturperiode. Die Neuerungen sind von hoher Relevanz für Kommunen, da diese überwiegend Kostenträger der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen sind. Das Bundeskabinett soll den Gesetzentwurf für ein Bundesteilhabegesetz am 28. Juni beschließen. Für Ende September ist die 1. Lesung im Bundestag vorgesehen. Im Dezember soll die 2./3. Lesung erfolgen, damit das Gesetz zum 1. Januar 2017 in Kraft treten kann.

2.)    Der Koalitionsvertrag formuliert eine doppelte Zielstellung: „Wir werden ein Bundesleistungsgesetz für Menschen mit Behinderung (Bundesteilhabegesetz) erarbeiten. Mit Inkrafttreten dieses Gesetzes wird der Bund zu einer Entlastung der Kommunen bei der Eingliederungshilfe beitragen. Dabei werden wir die Neuorganisation der Ausgestaltung der Teilhabe zugunsten der Menschen mit Behinderung so regeln, dass keine neue Ausgabendynamik entsteht.“ (S. 67). Erreicht werden sollen mithin für Betroffene bessere Teilhabechancen am täglichen Leben – also in Schule, Beruf, Freizeit und Pflege – ohne dass die Kosten dafür weiter steigen.

Schon heute belaufen sich die Kosten der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen die Länder und Kommunen auf jährlich mehr als 14 Milliarden Euro; rund 900.000 Menschen beziehen Leistungen. Bis zum Jahr 2020 muss ohne gesetzliche Änderungen mit einer weiteren Steigerung um 4,3 Milliarden gerechnet werden.

Bewertung

3.)    Die Bundes-SGK unterstützt grundsätzlich die inhaltliche Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe. Die Rechte der Menschen mit Behinderung müssen gestärkt werden; Inklusion muss im Alltag lebbar sein. Der neue Ansatz der Personenzentrierung und die individuelle Bedarfsorientierung bei der Leistungsgewährung sowie die Loslösung vom Fürsorgerecht der Sozialhilfe sind wesentlich und richtig.

4.)    Die Bundes-SGK hält den vorliegenden Referentenentwurf für geeignet, Menschen mit Behinderungen die ihnen zustehenden besseren Teilhabechancen zu garantieren. Zentrale Leistungsverbesserungen sind:

•     Künftig sollen Leistungen aus der Eingliederungshilfe („Fachleistungen“) getrennt von den Leistungen zum Lebensunterhalt erbracht werden. Damit wird auch das Wunsch- und Wahlrecht hinsichtlich der Leistungserbringung für behinderte Menschen gestärkt. Diese erhalten so mehr Autonomie und können z.B. ihren Lebensmittelpunkt eigenständig bestimmen.

•     Der Selbstbehalt bei Einkommen und Vermögen (der nicht auf die Eingliederungshilfe angerechnet wird) wird verbessert: Bereits 2017 sollen die Freibeträge für Erwerbseinkommen um bis zu 260 Euro monatlich steigen, die für Vermögen von heute 2.600 Euro auf dann rund 25.000 Euro. 2020 erfolgt eine weitere Anhebung des Vermögensfreibetrages auf 150 Prozent der Bezugsgröße (rund 52.000 Euro im Jahr 2016);  zudem soll ab dann auch das Partnereinkommen sowie das Partnervermögen nicht mehr angerechnet werden.

•     Für bessere Teilhabechancen am Arbeitsmarkt wird ein Budget für Arbeit eingeführt. Dieses soll es erleichtern, auch jenseits von Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) eine Stelle zu finden, da Arbeitgeber bis zu 75 % des gezahlten Lohnes als Zuschuss erhalten können. Für jene, die in den WfbM verbleiben, wird der Freibetrag für das Arbeitsförderungsgeld in Höhe von 26 Euro pro Monat verdoppelt.

•    In einem Teilhabeplanverfahren soll schnell und verbindlich „wie aus einer Hand“ geklärt werden, wer auf welche Leistung einen Anspruch hat. Zudem soll eine unabhängige Teilhabeberatung dazu beitragen, dass Betroffene ihre Rechte besser wahrnehmen können.

5.)    Die Bundes-SGK bezweifelt, dass der vorliegende Referentenentwurf geeignet ist, wie vorgesehen die Kostendynamik bei der Eingliederungshilfe zu bremsen. Stattdessen kommen auf die Kommunen als Kostenträger mutmaßlich deutlich höhere Aufwendungen zu.

•     Zwar sollen das sogenannte „Pooling“ und Änderungen im Vertragsrecht zu Effizienzgewinnen und einer besseren Leistungserbringung führen, ob diese zu nennenswerten Minderausgaben führen, ist nicht belegt.

•     Auch durch die Trennung von Fachleistungen und Leistungen zum Lebensunterhalt, die vom Bund getragen werden, können die Kommunen vor weiteren Belastungen bewahrt werden (prognostiziert sind vom BMAS für das Jahr 2020 insgesamt 378 Millionen Euro).

Die Bundes-SGK begrüßt die vorgesehenen Entlastungsansätze. Der Umfang dieser Entlastungen reicht jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach nicht aus, um die im System liegenden Steigerungen zu kompensieren. Dass diverse neue Leistungen von mehr Menschen in Anspruch genommen werden dürften, verursacht zwangsläufig zusätzliche Kosten. Auch die Personalkosten bei den Kommunen dürften aufgrund zusätzlicher Verwaltungs- und Kontrollaufgaben steigen. Ob diese Kosten tatsächlich nur 800 Millionen Euro jährlich betragen (wie vom BMAS geschätzt), bleibt zweifelhaft.

Schlussfolgerung

6.)    Mehrkosten, die durch das BTHG bei den Kostenträgern der Eingliederungshilfe entstehen, müssen zwingend durch den Bund getragen werden. Teilhaberechte sind Menschenrechte, ihre Gewährung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und nicht lediglich kommunale Verantwortung.

Durch die Neuregelung im SGB IX müssen die Länder eine Neubestimmung der Aufgabenträgerschaft vornehmen. Die konnexitätsrechtlichen Auswirkungen sind zu beachten.

7.)    Aus Sicht der Kommunen ist es zwingend geboten, einen Evaluationsauftrag und eine verbindliche „Revisionsklausel“ in das Gesetz aufzunehmen. Nur so kann hinreichend schnell die tatsächliche Wirkung der Änderungen untersucht werden und eine Garantie des Bundes hinsichtlich der Übernahme der entstehenden Mehraufwendungen gesichert werden.

8.)    Ungerechtigkeiten an den Schnittstellen müssen behoben werden. Dass pflegebedürftige Behinderte in stationären Einrichtungen weiterhin keine Leistungen der Pflegeversicherung erhalten sollen, widerspricht dem Inklusionsgedanken, bei dem Regelsysteme stets vor Sondersystemen greifen sollten. Die Leistungsbeschränkungen für pflegebedürftige Menschen, die in einer stationären Einrichtung der Behindertenhilfe leben, müssen durch Streichung des §43a SGBXI in Verbindung mit §13 Abs. 3 SGB XII aufgehoben werden.

Zu weiteren Reformerfordernissen an den Schnittstellen zu anderen Sozialleistungen sollten verbindliche Evaluationsaufträge und Schritte für die kommenden Jahre festgelegt werden.